23. Juni 2015

Zur Erinnerung an Jürgen Günther (1938-2015) ein Foto aus besseren Tagen des Jahres 2010 sowie einen Text, den ich zu seinem 75. Geburtstag geschrieben habe. Bis auf den letzten Satz nehme ich nichts zurück. Wir sind uns doch zu spät begegnet.

Ein Wort zuvor als Gruß
für Jürgen Günther

Oft passiert es kurz nach dem Vorspann, meistens in einem filmischen „Wimmelbild“, in einer Minisequenz. Hitchcock höchstselbst läuft durch das Bild. Urplötzlich taucht er auf. Sein kahler Kopf, aber auch die gedrungen gewichtige Gestalt des Meisters blitzen unverkennbar ins Zuschauerauge. Unwillkürlich kann daraus ein Spiel werden. Einmal entdeckt und gesehen, sucht der Zuschauer immer wieder angespannt nach dem Mondgesicht. Punkt, Punkt, Komma, Strich.
Ich wußte nicht, daß ich Jürgen Günther kannte, bevor ich ihn kennen lernte. Seinen zumeist mit dunkler Baskenmütze bedeckten Kopf, aber auch diese leicht gedrungene Figur mit dem angedeuteten Rundrücken. Woher bloß war mir diese Gestalt vertraut? Richtig. Beim Blättern in einem Ausstellungskatalog kam ich endlich drauf. (Zwischenfrage: Dürfen Bilder von Herta Günther erwähnt werden, wenn es um den Zeichner Jürgen Günther geht? Zwischenantwort: Um zu einem Zeichner zu finden, bedarf es mitunter Zeichen und Wunder.) Höchstselbst taucht er in etlichen Bildern von Herta Günther auf. Zumeist verwinzigt, ein Schatten inmitten von Passanten, windschief in vereinsamten Gassen, ein Husch, angedeutet nur, allerhöchstens Achtelprofil, wenn überhaupt, sonst von hinten. Im langen Mantel auf verschneiter Augustusbrücke, als sie noch Georgi-Dimitroff-Brücke hieß. In Dünenlandschaft, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Im weißen Hemd in der Hafenstraße, Hände tief in die Hosentaschen gegraben. Vorm Pieschener Hafen am Elbufer sitzend. In einer Kneipe mit großem Bier. Am Schießhaus auf dem Fahrrad. Einen Weinkeller betretend. Als Angler am Fluß. Auf verschneiter Mole. In Hoher Gasse zu Meißen. Bei der Markuskirche im Schnee. Und wie ertappt, weil ein einziges Mal doch Halbprofil, in der Künstlerkneipe, roter Schnurr- und Kinnbart, stattliche Nase rötlich schimmernd, im Auge den Schalk, das Lieblingsgetränk leider nicht im Bild. Was trinkt ein Comic-Zeichner? Gibt es berufsbedingte Vorlieben?
Lange vor mir war mein Sohn zu Besuch im Günther-Atelier. Das nannte man im vorigen Jahrhundert „Überholen, ohne einzuholen.“ Mich hat es zum eigenen Besuch angestachelt. Dann sitzen wir uns endlich gegenüber. Herta neben Jürgen Günther oder andersherum. Immer habe ich entweder oder gedacht. Jetzt begriff ich, der Zeichner ist ohne die Malerin nicht denkbar und umgedreht. (Noch eine Antwort auf obige Zwischenfrage: Wem es an dem Zeichner J.G. gelegen ist, der wird früher oder später die Bilder von H.G. erwähnen.) Sitzen uns gegenüber im Atelier am Altmarkt. Das gibt es zwar nicht mehr, ist aber in die Comic-Geschichte eingegangen. „Dort, wo das Licht brennt, sind wir geboren“, sagte Otto zu Alwin, als sie in einem gekaperten Sportflugzeug über dem Karree der Altmarkthäuser kreisten.
Nein, ich wußte nicht, daß ich Jürgen Günther kannte, bevor ich ihn kennen lernte, daß mit ihm gut essen, gut trinken und noch besser lachen ist. Noch bevor ich der verschwommenen Gestalt in den Bildern der Malerin auf die Schliche kam, waren es seine Adventskalender, die ich mit meinen fröhlich sein und singen wollenden Kindern zusammenbastelte, um Fenster für Fenster in die gewitzte Günther-Welt hinein- und aus unserer hinausschauen zu können. Reuelos gebe ich zu, den Namen des Kalender-Erfinders nicht gekannt zu haben. Mitleidlos gedenke ich der vielleicht lästigen Umstände, wenn bei Günthers wegen jahrelanger Entwicklung der FRÖSI-Adventskalender immerzu Weihnachten war. Anstandslos gestehe ich, daß wir uns spät begegnet sind. Aber zu spät auch nicht.


(veröffentlicht in: "OTTO UND ALWINs großes Fest für Jürgen Günther, Holzhof Verlag, Dresden 2013)